Eine Auswanderung ist ein hochemotionales Geschehen, das nicht erst mit dem Verlassen des Heimatlandes beginnt, sondern bereits Jahre zuvor im Zuge der Entscheidungsfindung. Studien haben ergeben, dass vom Zeitpunkt des ersten Gedankens an eine Auswanderung bis hin zu deren Realisierung im Schnitt mindestens zehn Jahre vergehen.
Damit eine Auswanderung auch erfolgreich umgesetzt werden kann, sind neben der konkreten Planung finanzieller, rechtlicher und beruflicher Fragen auch psychologische Aspekte von Relevanz. Erfolgreiche Auswanderer unterscheiden sich von RĂĽckkehrern bereits schon vor der Auswanderung voneinander hinsichtlich verschiedener Faktoren des Auswanderungsprozesses. Nachfolgend soll beispielhaft auf einige psychologisch relevante Aspekte eingegangen werden.
Neuere Modellentwicklungen sehen Migration als ein Phasengeschehen an, das ein Leben lang besteht und auch als generationsĂĽbergreifend angesehen werden kann. Phasenmodelle sind in der Psychologie fĂĽr unterschiedliche Ereignisse bekannt. So verlaufen beispielsweise Trauerprozesse bei Tod oder Trennung und Verarbeitungsprozesse bei Krankheiten wie Krebs in unterschiedlichen Phasen ab. Diese stellen eine normale und notwendige Anpassungsleistung unserer Psyche an Verlust- und Bedrohungsereignisse dar.
Eine Auswanderung selbst ist ein Loslösungs- und Bindungsprozess, nämlich die Loslösung von der Ursprungskultur hin zur Kultur des Einwanderungslandes. Innerhalb dieses Migrationsprozesses zeigen sich unterschiedliche Phasen. Diese werden als universell angesehen, d.h. jeder Auswanderer erlebt diese Phasen im unterschiedlichen Ausmaß, je nach persönlicher Entwicklung und Lebenserfahrung. Das Durchleben dieser Phasen stellt einen notwendigen Schritt dar zur Anpassung an das neue Lebensumfeld.
Grob gesprochen werden folgende Phasen unterschieden:
Vorbereitungsphase
Hierbei wird die Entscheidung zur Auswanderung getroffen und notwendige Vorbereitungen eingeleitet. RĂĽckkehrer wiesen in Studien im Vergleich zu erfolgreichen Auswanderern eine kĂĽrzere Vorbereitungszeit auf.
Migrationsakt
In dieser Phase findet die Ausreise statt. Die emotionale Belastung kann unterschiedlich stark sein. Die Unterschiede der Kulturen werden sehr häufig im Sinne einer „romantischen Verklärung“ gesehen (Honeymoon-Phase).
Phase der kritischen Integration
Kennzeichnend für diese Phase ist die Sicherung des Überlebens im Zielland hinsichtlich beruflicher und sozialer Aspekte. In dieser Phase kann es zu Frustrationen und Relativierung der eigenen Erwartungen kommen mit steigendem Stresserleben und psychischer Beeinträchtigung.
Phase der kulturellen Adoleszenz
Die in der Adoleszenz erlebten Krisen ähneln denen des Migrationsprozesses. Während innerhalb der Pubertät eine Integration in die Gesellschaft erfolgt, findet im Migrationsprozess eine Integration in das Auswanderungsland statt. Gleichzeitig erfolgt eine Ablösung von der Heimatkultur hin zu einer bikulturellen Identität mit der Kultur des Ziellandes.
Transgenerationale Auswirkung
Die von der Auswanderergeneration mitgebrachten und gepflegten Sitten, Werte und Gebräuche werden von der nachfolgenden im Inland geborenen Generation in Frage gestellt und geändert. Die zweite Generation erlebt sich oftmals als zwischen den Kulturen stehend („intercultural clash“) mit häufigen psychischen und familiären Konflikten („intergenerational clash“).
Die in diesem Modell erfolgende Regelhaftigkeit gilt fĂĽr alle Formen der Auswanderung wie zeitbegrenzter Auswanderung, z.B. aufgrund eines Berufs- oder Studienaufenthaltes, oder als zeitlich unbegrenzt geplante Auswanderung. Ebenso gilt dies fĂĽr Migration durch Flucht, Vertreibung und politische Verfolgung.
Der im Auswanderungsland erfolgende Anpassungsprozess kann auf der persönlichen als auch auf der Kulturebene stattfinden. Er wird als Akkulturation bezeichnet und beinhaltet vier Akkulturationsstrategien. Diese ergeben sich aufgrund der Beziehungen der Identifikation mit dem Herkunfts- und dem Aufnahmeland.
Es handelt sich hierbei um
Integration
Es findet eine Identifikation sowohl mit dem Herkunfts- als auch mit dem Aufnahmeland statt.
Assimilation
Eine Identifikation mit dem Aufnahmeland findet statt. Die Kultur des Herkunftslandes wird aufgegeben.
Separation
Die Identifikation mit dem Herkunftsland ist gegeben, die des aufnehmenden Landes wird abgelehnt (Parallelgesellschaften).
Marginalisierung
Sowohl die Kultur des Herkunfts- als auch des Aufnahmelandes wird abgelehnt.
Die Wahl der jeweiligen Akkulturationsstrategie stellt einen Entscheidungsprozess dar, die der Auswanderer treffen kann, mit den jeweiligen Konsequenzen. In verschiedenen Untersuchungen mit unterschiedlichen Ethnien zeigte die Integrationsstrategie das höchste subjektive Wohlbefinden des Auswanderers mit dem geringsten Stressgeschehen. Die Marginalisierung erwies sich am ungünstigsten. Assimilation und Separation lagen von den Effekten her gesehen dazwischen.
Da eine Auswanderung einen Entscheidungsprozess darstellt, bedeutet dies gleichzeitig auch ein kognitives Geschehen. Vereinfacht ausgesprochen beginnt eine Auswanderung im Kopf. Förderlich für ein Gelingen ist eine Einstellung, die eher unter dem Aspekt der Chancen und Möglichkeiten gesehen werden sollte und weniger unter dem Aspekt des Verlustes. Rückkehrer unterschieden sich von erfolgreichen Auswanderern darin, dass sie bereits schon vor der Ausreise davon ausgingen im Zielland auf Probleme zu stoßen und starkes Heimweh zu bekommen. Sie beschäftigten sich vor der Ausreise bereits schon mit einer Rückkehr, was dann auch aufgrund der Programmierung im Sinne der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen sehr häufig zutraf.
Daher ist es wichtig von Vornherein eine positive Grundeinstellung zu entwickeln mit der Bereitschaft sich auf Neues einzulassen und sich mit der zu erwartenden Kultur auch auseinander setzen zu wollen. Dies bedeutet natürlich auch gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der eigenen Einstellung. Hilfreich sind hierbei ein hohes Ausmaß an Frustrationstoleranz, Lernbereitschaft und Ambiguitätstoleranz. Letzteres meint die Fähigkeit zu lernen mit Mehrdeutigkeiten, Widersprüchen und gegensätzlichen Erwartungen der anderen Kultur umzugehen.
Neben diesen einer erfolgreichen Auswanderung förderlichen Aspekten gibt es auch hemmende Faktoren, die es zu beachten gilt, wie unzureichende Vorbereitung, falsche Zielvorstellungen und Idealisierungen oder eine ambivalente Einstellung bereits vor der Abreise. Ungünstig erweist sich, wenn der Partner eine Auswanderung nicht oder nur unzureichend trägt, die Kinder nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden werden oder die Familie sich deutlich gegen eine Auswanderung ausspricht. Auch sollten das Heimweh und der Verlustschmerz nicht unterschätzt werden. Ebenso sollten gesundheitliche Probleme beachtet werden. Bei einer psychischen Vorerkrankung besteht ein erhöhtes Risiko zu einem Rezidiv.
Die Aufzählung dieser psychologischen Faktoren ist beispielhaft. Darüber hinaus sind natürlich auch Aspekte wie berufliche Situation, Sprachkenntnisse oder finanzielles Polster zu beachten, die allerdings nicht Thema dieses Artikels sind.
Zu guter Letzt möchte ich noch auf den Aspekt der Rückkehr eingehen. Die Rückkehrerquote liegt in den verschiedenen Studien bei ca. 30%. Oft wird eine Rückkehr als Scheitern oder persönliche Niederlage angesehen. Der Rückkehrer schämt sich darüber, es nicht geschafft zu haben.
Aber ist es wirklich ein Versagen, wenn sich der Einzelne aufgrund von Heimweh, starker emotionaler Belastung oder Frustration zur RĂĽckkehr entschlieĂźt? Oder ist es nicht vielmehr eine kluge Entscheidung, etwas aufzugeben, das nicht funktioniert?
Man nimmt auf alle Fälle einen Sack voll Erfahrungen mit und hat seinen Horizont erweitert. Eine Rückkehr sollte daher als Lernerfahrung angesehen werden: man weiß, was geht und was nicht geht.
Sehr häufig berichten Rückkehrer von depressiven Verstimmungen, der sog. Rückkehr-Depression. Man selbst hat sich verändert und das alte Umfeld ist mehr oder weniger gleich geblieben. Man muss wieder zueinander finden. Oft geht die Rückkehr allerdings auch mit einer finanziellen Einbuße einher. Der alte Arbeitsplatz ist weg und die Wahrscheinlichkeit einer beruflichen Verschlechterung ist gegeben.
Daher sollte auch eine Rückkehr gut überlegt werden. Möglicherweise sind die Probleme doch nicht so gravierend, wie man das im Moment erlebt und ein zeitlicher Puffer bis zur endgültigen Entscheidungsfindung wäre dann hilfreich.
Weiteres zum Thema Auswanderung finden Sie in meinem Buch:
Deutsche wandern aus – Eine psychologische Perspektive.
Verlag BOD.
ISBN 978-3-7534-0660-2
200 Seiten, € 14,99
Autor
Dr. phil. Hans-Ulrich Dombrowski ist Diplom-Psychologe und Psychotherapeut. Neben seiner praktischen Tätigkeit ist er publizistisch aktiv und gibt seine Erfahrungen in Form von populärwissenschaftlichen Büchern weiter. Die Bearbeitung des Themas „Auswanderung” beruht auf seiner Arbeit mit deutschen Auswanderern und persönlichen Erfahrungen.